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Sirrender Zeitpfeil, flirrender Sprachraum

Wetzlarer Phantastiktage im Zeichen multimedialer Wirklichkeit

Das Internet als weltumspannendes Medium verändert nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die menschliche Wahrnehmung. Unsere Lern- und Lebensgeschwindigkeit nimmt zu, der „Umschlag“ des Wissens beschleunigt sich von Jahr zu Jahr, längst übersteigt die täglich verfügbare Informationsmenge unser Fassungsvermögen. Wie greift die fantastische Literatur diese realen Entwicklungen auf? Entwirft sie, wie schon früher in Zeiten  gesellschaftlichen Umbruchs, Schreckensszenarien – oder Utopien?  Bestimmen die neuen Medien auch Sprache und Themen der Fantastik? Und welche Zukunft hat das Medium Buch? Diese Fragen, aufgeworfen von den Tagungsleitern Thomas LeBlanc und Bettina Twrsnick, standen vom 7. bis 10. Oktober im Mittelpunkt der 20. Wetzlarer Tage der Phantastik. Autoren, Literaturwissenschaftler, Verleger und Lektoren versuchten sich dabei in einer Positionsbestimmung der „Phantastik am Anfang der Zeit“, sprich des beginnenden dritten Jahrtausends.

Während im politischen Diskurs, so Zukunftsforscher und Sciencefiction-Autor Dr. Karlheinz Steinmüller, die „großen utopischen Entwürfe gemeinhin als glücklich überwunden“ gelten und an ihre Stelle „die Realutopie New Economy oder Visionen vom Vereinten Europa oder von der Gestaltung der Informationsgesellschaft“ getreten sind, leben sie in der Sciencefiction  in manchen Cyberspace-Fantasien als Traum von menschlicher Unsterblichkeit im virtuellen Netz fort. Daneben gibt es eine Reihe neuerer Mars-Utopien, in denen alternative Formen des Zusammenlebens jenseits der irdischen Schwerkraft in kleinen, insularen Gemeinschaften erprobt werden. „Für Utopien“, sagt Steinmüller, „gibt es heute keinen einheitlichen kulturellen Kanon mehr, sondern nur noch verschiedene Subkulturen.“

Zerstört der immer schneller sirrende Pfeil der Zeit jeden Traum von einer gerechteren irdischen Welt?  Das Prinzip Hoffnung lebt für Steinmüller „gerade in der neuen Organisation menschlichen Wissens“ weiter: „Diese Organisation ermöglicht eine Vernetzung von Ideen und Konzepten. Denn es sind nicht nur die ´harten Faktoren` der Wirtschaft, die unsere Wirklichkeit prägen, sondern auch unsere Vorstellungen und Projekte. Es gibt Wahlmöglichkeiten.“

Angesichts der totalen Informationsgesellschaft, angesichts der Zersplitterung der Welt in unzählige digitale Programme, spricht der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst („Thetis. Anderswelt.“) der sogenannten realistischen Literatur die Fähigkeit ab, Wirklichkeit darzustellen: „Sie versucht, ganzheitlich zu interpretieren, wo es nur Partikel gibt: digitale Punktverteilungen im Netz.“ An die Stelle einer Literatur, die „das Unbegreifliche als begreifbar“ beschreibt und damit komplexe Zusammenhänge vereinfacht, möchte er Dichtung als „Mischling der verschiedenen Genres“ setzen. Realistische Literatur heute beinhaltet für Herbst  „ein Ende des randscharfen Erzählens“ , „ein Flirren im Sprachraum“ , das die Linearität herkömmlicher auktorialer Erzählweisen bricht. Nur so könne sie ihr altes, subversives Potential „vielleicht in die Schöne neue Welt hineinschmuggeln.“

Ein „Vielleser“ – Hund Charly
© Foto: Wolfgang Glass, 2010

Bücher werden in dieser neuen Welt nicht verschwinden, wenngleich sich derzeit auch neue Formen elektronisch übermittelter Literatur entwickeln: So lautete die optimistische Prognose Eugen Emmerlings, Sprecher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Weltweit sei das erfolgreichste im Internet vertriebene Produkt das Buch. In Deutschland sei der Anteil der „Vielleser“ (mehr als 20 Bücher pro Jahr) inzwischen sogar von vier auf neun Prozent gestiegen. Selbstverständlich wirke sich das weltweite Datennetz auch auf Sprache, Darstellungsform und Vertrieb von Literatur aus. Das sinnlich erfahrbare, handgreifliche Buch habe jedoch Zukunft, denn, frei nach Hans Magnus Enzensberger: „Es gibt ein Leben diesseits der digitalen Welt – das Einzige, das wir haben.“

©Usch Kiausch, 2000